buddhistischen Philosophie entwickelt wurde. Ihr zufolge können wir auf
drei unterschiedliche Weisen begreifen, wie Dinge und Ereignisse
entstehen. Auf der ersten Stufe versteht man unter abhängiger oder
bedingter Entstehung das Prinzip von Ursache und Wirkung: Alle Dinge
und Ereignisse entstehen in Abhängigkeit von einem komplexen Netz
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miteinander verflochtener Ursachen und Bedingungen. Das wiederum
heißt, daß kein Ding oder Ereignis in unserer Vorstellung so gedacht
werden kann, daß es aus sich selbst heraus Existenz gewinnt oder beibehält.
Wenn ich zum Beispiel etwas Ton nehme und ihn forme, kann ich einem
Becher zur Existenz verhelfen. Dieser Becher existiert aus der Wirkung
meines Tuns heraus. Doch zugleich wirken sich in ihm auch unzählige
andere Ursachen und vorausgegangene Bedingungen aus. Dazu gehört
etwa, daß sich der Ton mit Wasser vermischt hat und so das
Ausgangsmaterial bildet. Doch um dieses zu bilden, mußten sich Moleküle,
Atome und noch winzigere Teilchen zusammenfinden (die selbst alle
wiederum von unzähligen anderen Faktoren abhängen). Weiter sind da die
Umstände, die meinen Entschluß herbeiführten, diesen Becher
anzufertigen. Und da sind weiter die zusammenwirkenden Bedingungen
meiner Bewegungen, während ich den Ton forme. All diese verschiedenen
Faktoren verdeutlichen, dass mein Becher nicht unabhängig von seinen
Ursachen und Vorbedingungen zu existieren beginnen kann: Er entsteht
durch Bedingungen und Abhängigkeiten.
Auf der zweiten Stufe läßt sich ten del im Verhältnis der wechselseitigen
Abhängigkeit begreifen, die zwischen dem Ganzen und seinen Teilen
besteht. Ohne die Teile gibt es kein Ganzes; ohne ein Ganzes ergibt die
Vorstellung von Teilen keinen Sinn. Damit soll nicht bestritten werden, daß
die Vorstellung eines Ganzen auch in gewisser Weise auf Teilen basiert.
Doch diese Teile müssen selbst wiederum als Ganzheiten betrachtet
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werden, die aus ihren eigenen Teilen bestehen.
Auf der dritten Stufe lassen sich sämtliche Phänomene als bedingt
entstanden ansehen, denn wenn wir sie analysieren, stellen wir fest, daß sie
letztlich keine unabhängige Identität haben. Das läßt sich verdeutlichen,
indem wir betrachten, wie wir von bestimmten Phänomenen sprechen. So
setzen sich zum Beispiel die Begriffe »Handlung« und »Handelnder«
gegenseitig voraus, ebenso wie »Eltern« und »Kind«. Jemand kann nur ein
Elternteil sein, wenn er oder sie Kinder hat. Und umgekehrt wird jemand
nur Sohn oder Tochter genannt, wenn es Eltern gibt oder gab. Dieselbe
Beziehung gegenseitiger Abhängigkeit finden wir in den Worten, mit
denen wir Berufe beschreiben. Ein Mensch wird Bauer genannt, weil er in
der Landwirtschaft arbeitet oder Viehzucht betreibt, und Ärzte tragen diese
Bezeichnung, weil sie sich medizinisch betätigen.
Auf etwas differenziertere Art lassen sich Dinge und Ereignisse meiner
Ansicht nach als bedingt entstanden begreifen, wenn wir zum Beispiel
fragen: Was genau ist ein Tonbecher? Wenn wir etwas benennen wollen,
benutzen wir dabei den Begriff, mit dem wir die endgültige Identität
beschreiben. Dabei stellen wir fest, daß die reine Existenz des Bechers
und entsprechend die Existenz aller anderen Phänomene in gewissem
Maß vorläufig und durch eine Konvention festgelegt ist. Wenn wir fragen,
ob seine Identität durch seine Gestalt, seine Funktion oder seine speziellen
Bestandteile (also seine Existenz aus einer Mischung von Wasser und Ton)
bestimmt wird, dann fällt uns auf, daß der Begriff »Becher« nichts als eine
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verbale Bezeichnung ist. Es gibt keine einzelne Eigenschaft, die ihn
definieren würde. Und genauso wenig tut das die Gesamtheit seiner
Merkmale. Wir können uns Becher verschiedener Formen vorstellen, die
allesamt dennoch Becher sind. Und weil wir von seiner Existenz eigentlich
nur im Zusammenhang mit einer komplexen Verkettung von Ursachen und
Bedingungen sprechen können, hat er so gesehen keine einzelne ihn
definierende Eigenschaft. Anders gesagt: er existiert nicht in und aus sich
selbst heraus, sondern ist bedingt entstanden.
Was geistige Phänomene angeht, so sehen wir auch bei ihnen eine
Abhängigkeit. Hier besteht sie zwischen dem Wahrnehmenden und dem
Wahrgenommenen. Nehmen wir als Beispiel eine Blume. Zuerst muß ein
Sinnesorgan vorhanden sein, damit die Wahrnehmung einer Blume
überhaupt entstehen kann. Als zweites brauchen wir eine Voraussetzung
in diesem Fall ist es die Blume selbst. Damit sich, drittens, eine
Wahrnehmung ergibt, muß etwas vorhanden sein, was das Augenmerk des
Wahrnehmenden auf das Objekt lenkt. Dann entsteht, durch die kausale
Verknüpfung dieser Bedingungen, ein kognitiver Vorgang, den wir die
Wahrnehmung einer Blume nennen. Nun wollen wir untersuchen, was
genau diesen Vorgang ausmacht. Ist es nur die Tätigkeit des Sinnesorgans?
Ist es nur die Wechselwirkung zwischen dessen Fähigkeit und der Blume?
Oder ist es noch etwas anderes? Letztlich werden wir feststellen, daß wir
das Konzept der Wahrnehmung nicht begreifen können außer im
Zusammenhang einer unendlich komplexen Reihe von Ursachen und
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Bedingungen.
Wenn wir das Bewußtsein selbst zum Gegenstand unserer
Untersuchung machen, obwohl wir zu der Annahme neigen, daß es sich bei
ihm um etwas Wesentliches und Unwandelbares handelt, stellen wir
ebenfalls fest, daß wir es besser verstehen, wenn wir es im Rahmen der
abhängigen oder bedingten Entstehung betrachten. Das kommt daher, weil
es schwierig ist, neben einer individuellen Wahrnehmung, Erkenntnis und
Empfindung eine unabhängig existierende Entität zu postulieren. Das
Bewußtsein ist daher mehr ein Konstrukt, das aus einem breiten Spektrum
komplexer Ereignisse erwächst.
Um das Konzept der bedingten Entstehung zu begreifen, kann man sich
auch mit dem Phänomen der Zeit befassen. Für gewöhnlich kommt es uns [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]